Meine Erinnerungen an das Leben im Haus

von Manfred Lohmann

Bereits im März 1944 flüchteten meine Großeltern, das Ehepaar Prof. D. Pfennigsdorf, Besitzer des Hauses in der Poppelsdorfer Allee vor den Bombenangriffen nach Bad Pyrmont zu Verwandten. In der Zeit von Frühling 1944 bis Juni 1945 bedienten sich entweder Bonner Bürger an Möbelstücken und Hausrat oder amerikanische Soldaten wohnten in dem Haus, die einiges zerstört hinterließen.

Die amerikanische Armee besetzte Bonn am 6. März 1945.

Die Familie Prof. Pfennigsdorf war zu diesem Zeitpunkt noch weit verstreut. Von dem einzigen Sohn hatte man keine Nachricht. Eine Tochter wohnte kriegsbedingt in Erlangen, die andere im Schwarzwald.

Am 28. August 1945 zog die Tochter Erika mit ihren Kindern Achim und Manfred mit gefälschten Papieren von Erlangen in das Elternhaus nach Bonn. Nach zweitägiger beschwerlicher Fahrt auf der Pritsche eines LKWs erreichten wir mit etlichen anderen Menschen Bonn und wurden von unseren Großeltern herzlich empfangen. Wenig später folgte unser Vater, der nach dem Krieg bei dem Reichshahn in Frankfurt arbeitete und sich dann nach Köln versetzen ließ. Der einzige, der noch in der Familienrunde fehlte, war mein Onkel Udo. Wir wurden deshalb von unserer Mutter eingeschworen, seinen Namen nicht zu nennen, um unsere Großmutter nicht unnötigerweise an diese traurige und belastende Tatsache zu erinnern. Urplötzlich stand er am 5. Oktober 1945 vor der Türe - gerade einmal 120 Pfund schwer - für einen 1,96 m großen Menschen ein absolutes Fliegengewicht. Aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes hatte man ihn aus dem Lager in Auschwitz entlassen, das nach der Kapitulation am 8. Mai 1945 zu einem deutschen Kriegsgefangenenlager wurde. Er schilderte später, in welch großer Spannung er am Bahnhof in Bonn ankam und den unteren Teil der Poppelsdorfer Allee in Schutt und Asche sah. Wusste er doch nicht, ob seine Eltern den Krieg überlebt hatten.

Im Hause Poppelsdorfer Allee 108 bezogen wir, meine Eltern, mein Bruder Achim und ich. damals die zweite Etage. Das Zimmer über dem Hauseingang war für uns Kinder bestimmt. Direkt unter dem Fenster war eine Vertiefung im Fußboden, die durch eine Brandbombe entstanden war. Sie war nur durch Auffüllen von Sand und einem Stück Linoleum repariert worden - eine Reparalur, die sicher einen Statiker nicht entzückt hätte. Unsere Eltern waren deshalb immer sehr besorgt, daß wir uns durch Springen und Herumtollen plötzlich im ersten Stock vorfinden könnten.

An der Türe dieses Zimmers stand ein kleiner Kanonenofen, denn für die Benutzung der Zentralheizung gab es keine Kohlen. Neben unserem Zimmer befand sich das unbeheizbare Badezimmer, das wir notdürftig in eine Küche umgewandelt hatten.

Als Küchentisch diente ein Brett. das über die Wanne gesetzt wurde. Im Winter war es ohne Heizung lausekalt und im Sommer war es heiß wie in der Sauna. Es gab weder genügend Strom noch Gas, und häufig fiel beides ganz aus. Um Energie zu sparen, wurde das Essen in einem Topf vorgekocht, anschließend in die sog. Kochkiste gesetzt - einem mit Holzwolle gefüllten Karton - und von dort ins Bett unter die Daunendecke zum weiteren Garen. An Improvisation herrschte kein Mangel, um das tägliche Leben zu meistern. Einen elektrischen Eisschrank gab es nicht. Allerdings hatten meine Großeltern einen, der mit Eisblöcken versorgt werden musste. Diese wurden bei Bedarf im Sommer mit einem Pferdefuhrwerk angeliefert.

Großeinkäufe, wie sie heute üblich sind, verboten sich aus mehreren Gründen. Frische Lebensmittel ließen sich nicht lange aufbewahren, ganz abgesehen davon, dass sie einfach nur selten angeboten wurden. Die Geschäfte waren leer, und man musste jeden Tag los, um etwas Essbares aufzutreiben, das es nur gegen Lebensmittelkarten gab. So erinnere ich mich, dass jeden Morgen meine Mutter und ich - als ich noch nicht zur Schule ging - zwei Tante-Emma-Läden aufsuchten, in der Hoffnung wenigstens in einem der Geschäfte etwas zu bekommen. Beide Geschäfte lagen in der Sebastianstraße. immerhin 1,5 km entfernt. Ich empfand das als kleiner Knirps schon sehr mühsam.

Da mein Großvater aufgrund der schlechten Ernährung im Krieg fast erblindet war, beschäftigte er einen jungen Studenten, Herrn Schwahne, und einen Frührentner, Herrn Rudolph, die ihm aus Büchern und philosophischen Schriften vorlasen und seine theologischen Schriften niederschrieben, die er bis 1948 veröffentlichte. Er saß dann in dem Thonet-Schaukelstuhl, der auch heute noch im Hause ist.

Unser Großvater war ein Mensch, der ganz in seiner theologischen Welt lebte und die Wirklichkeit anders wahrnahm als wir, besonders wenn es darum ging, seine Gedanken zu Papier zu bringen. So soll die Bezeichnung eines zerstreuten Professors bei ihm durchaus zutreffend gewesen sein. Das tägliche Leben bewältigte unsere Großmutter, die eine tüchtige und eine lebenskluge Hausfrau war. Sie stammte aus einer Kaufmannsfamilie in Celle.

Im Winter versammelte sich die ganze Familie in der kleinen Küche der ersten Etage, die häufig als einziger Raum beheizt wurde. Hier wurde gelesen, geflickt, genäht, sich unterhalten und gespielt. Wild herumtollen konnten wir natürlich nicht. Kinder hatten auch grundsätzlich zu schweigen, wenn Erwachsene sich unterhielten. Obwohl es aus heutiger Sicht kärglich zuging, fühlten wir uns sehr geborgen.

Der Sonntag unterschied sich im Hause Pfennigsdorf von den anderen Wochentagen. Um 11 Uhr gingen mein Bruder und ich in den Kindergottesdienst in die Lutherkirche an der Reuterstraße, den mein Onkel, Pfarrer Friedrich Mummenhoff, hielt. Nachmittags traf sich die ganze Familie zum Kaffeetrinken. Das ist leicht übertrieben, denn der Kaffee war durch den "Muckefuck", einem aus Korn gebrannten kaffeeähnlichen Getränk ersetzt. Wir bildeten dann oft eine Familie bzw. Gesellschaft mit 13 Personen, mit meinen Großeltern, meinem Onkel, Udo Pfennigsdorf, Pfarrer Mummenhoff mit seiner Frau, die eine Schwester meiner Mutter war, ihren Kindern Rainer und Irmela, uns Lohmännern und dem Bruder meiner Großmutter (Gustav Otte) und dessen Frau, unsere Tante Lia, die wir alle sehr gerne mochten. Manchmal war diese Runde noch erweitert durch das Hinzukommen eines bekannten Pfarrers (Gützlaff, Hillert). Wir Kinder wurden dann ans Kopfende an den sog. Katzentisch gesetzt, was wir schätzten, denn hier konnten wir uns unterhalten und spielen, brauchten uns also nicht unterzuordnen.

Nach dem Kaffeetrinken gingen wir meistens in den Garten, wo wir sehr von den strengen und misstrauischen Augen unseres Onkels beobachtet wurden. Auf die Beete zu gehen, war streng verboten, was sich aber nicht immer befolgen ließ. Von den Früchten des Gartens zu naschen, wurde von ihm nur ungern gesehen. Weiteren Argwohn zogen wir uns zu, als besonders Rainer und ich das Treppengeländer herunterrutschten, wobei jeder von uns beiden besonders schnell sein wollte. Leider musste ich meinem Vetter die Führungsrolle überlassen. Mein Onkel befürchtete, dass das Geländer durch Kratzer beschädigt werden könnte.

Wie erwähnt, war das Haus von einer Brandbombe getroffen, die es um Haaresbreite in Flammen gesetzt hätte, wenn nicht mein Onkel, Pfarrer Mummenhoff, von Unruhe getrieben, in die Poppelsdorfer Allee geeilt wäre. Er hatte die Bombe kurzerhand aus dem Fenster geworfen und ist damit eigentlich derjenige, der schließlich zur Schaffung dieser Stiftung beigetragen hatte, ohne dies jemals ahnen zu können.

Als mein Onkel Udo aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte. musste er erst einmal zu Kräften kommen. Mit meiner Mutter trieb er zunächst die am Kriegsende gestohlenen Möbel und Gegenstände wieder auf. Bei ihren Erkundigungen fanden sie das Diebesgut bei Nachbarn und bei Händlern, einschließlich einer alten Stainer Geige aus dem 17. Jahrhundert - versteckt auf einem Schrank. Soweit ich mich erinnere, geschah alles ohne polizeiliche Hilfe, was aus heutiger Sicht unglaublich klingt. Die Drohung alleine, diese Missetaten zu melden, veranlasste die Menschen, ihre nicht rechtens erworbenen Schätze wieder zurückzugeben.

Anfang 1946 gründete mein Onkel seine Rechtsanwaltspraxis im Parterre des Hauses, wo er seinen eigenen Hausstand mit Haushilfe, Küche, usw. hatte. Das war für uns alle in mehrfacher Hinsicht von großer Bedeutung: Von der Anzahl der von uns benötigten Zimmer hing die Einquartierung von Flüchtlingen ab, die es zu jener Zeit in großer Zahl gab, und ebenso die Zuteilung von Strom, Gas und Kohlen gegen Marken. Später überlegte er hin und wieder, die Praxis in die Nähe des Land- und Amtsgerichtes in der Wilhelmstraße zu verlegen. Doch wenn dann im Frühling die Kastanien in der Allee blühten, schwanden diese Absichten. Das war auch nicht verwunderlich, denn seinen Schreibtisch hatte er sich so gestellt. dass er einen wunderschönen Blick auf die Allee und das Poppelsdorfer Schloss Clemensruhe hatte.

Mit der Praxisgründung stellte mein Onkel eine junge Dame aus Sechtem ein, die ihn zeitlebens bis zu seinem Tod im Jahre 1989 beruflich begleitete. Es war Frau Maria Weiler, die heutige Geschäftsführerin der Stiftung. Für sie war das Leben sicher nicht immer einfach, denn mein Onkel, der Widerspruch nicht besonders mochte, war sparsam und streng.

Bei Anschaffungen musste ihm aber das Beste gut genug sein. So kaufte er sich im Jahre 1957 einen Mercedes, der ihm gut 25 Jahre treue Dienste leistete und die "erstaunliche Laufleistung" von 30.000 km erreichte, bis er als Oldtimer einen neuen Eigentümer fand. Trotz aller Vorsicht ließ es sich nicht verhindern, dass sein Auto in seinem langen Leben so manche Beule einfuhr, sehr zur Freude der Daimler-Aktionäre. Passend zu seinem Mercedes trug er den feinsten Zwirn, vorausgesetzt er bewegte sich in der Öffentlichkeit. Aber auch hier folgte er dem Gesetz der Wirtschaftlichkeit, indem er morgens, neben seiner Alltagsjacke, eine zweite zur Hose passende sauber gefaltet ins Büro trug. Sobald ein Klient eintrat, zog er die alte Jacke aus und machte seine Aufwartung. Diese Aus- und Umzieherei konnte sich am Tage mehrmals wiederholen und ließ seine Kleidung altern, ohne dass man es ihr ansah. Auf diese Art mehrte er zur Zufriedenheit der heutigen Stiftung den Wert seines Aktiendepots. Für sein eigenes und das von Klienten anvertraute Geld ließ er besondere Sorgfalt walten. Seine Kassette mit Barem und Sparbüchern gefüllt wanderte jeden Tag ins Schlafzimmer und nahm den gleichen Weg am folgenden Morgen zurück in seine Büroräume, damit sich keiner diesem Heiligtum unbeaufsichtigt nähern konnte. Da er sich selbst gegenüber bescheiden war, konnte er sich über kleine Geschenke sehr freuen, was ihn dann zu einem besonders liebenswürdigen Herrn machte. Als er 1965 also im reifen Alter von 58 Jahren heiratete, investierte er kräftig, um das Haus zu modernisieren. So verwandelten sich die in Schwarz gehaltenen Türen, eingelegt mit Goldstreifen, die das Haus vornehm und dunkel erscheinen ließen, in ein freundliches Weiß, und die frisch tapezierten Wände erstrahlten in neuem Glanz. Mit dem Erscheinen seiner Frau, Hildegard Frettlöh, trat ein Wandel ein.

Zur Arbeit pflegte er ein etwas gespaltenes Verhältnis. Von den Politikern und den Direktoren von Aktiengesellschaften verlangte er Außergewöhnliches. Und wehe denen, die durch Unfähigkeit, Müßiggang oder gar Verschwendung auffielen. Und das waren nicht wenige! Sie konnten ihn erzürnen, und er bedachte sie nicht immer mit freundlichen Worten. Bei seiner eigenen Tätigkeit soll er, wie ich später hörte, nicht ganz so streng gewesen sein. Er liebte es, etwas länger zu schlafen, als man von einem strengen und disziplinierten Herrn erwartete. Man höre und staune - auch der eine oder andere Richter soll auf ihn gewartet haben. Und wenn Frau Weiler nicht gewesen wäre, die ihn respektvoll und doch bestimmt, immer wieder auf die Termine aufmerksam machte, wäre es möglicherweise zu einer Stiftung mangels Masse nie gekommen.

Wenn wir einen Menschen im Rückblick beurteilen, so sehen wir ihn mit unseren Augen, aus unserer Welt und unserer Zeit. Da schwingt dann immer ein bisschen Überheblichkeit mit, und die Dinge werden überzeichnet. Wir wissen, dass wir von der nachfolgenden Generation ebenso mit fremden Augen gesehen werden. Auch wir werden künftig vielleicht nicht immer verstanden werden und zuweilen sicher auch Heiterkeit auslösen.